Im Lauf der Jahre habe ich viele Kampagnen für Shadowrun geleitet, angefangen mit der 2. Edition, bis zur aktuellen Shadowrun Legacies Kampagne in der 6. Edition. Unabhängig von der Edition ist in meinen Augen der wichtigste Schritt die Auswahl der Stadt, in der die Runner laufen und die Kampagne zumindest beginnen soll. Über die Editionen hinweg wurde viel Material für verschiedene Städte veröffentlicht, mal nur die Grundlagen, mal wirklich vertieft. Aber wie wählt man nun aus, welche Stadt man für den Anfang benutzt?
Diese Frage ist, um ehrlich zu sein, nicht so einfach zu beantworten. Generell hat man an dieser Stelle zwei Möglichkeiten, die beide ihre Vor- und Nachteile haben.
Möglichkeit 1: Publiziertes Material
Diese Möglichkeit ist die, zu der meiner Erfahrung nach die meisten Anfänger greifen werden. Es gibt eine ganze Menge von Bänden, die sich mit verschiedenen Sprawls in der 6. Welt befassen, und aus denen man die grundlegenden Informationen für seine Kampagne ziehen kann. Auch in den Kampagnenbänden findet man häufig eine Reihe von Informationen, auf denen man aufbauen kann.
Der Vorteil an diesen Settings ist, dass es alles gibt, was man für eine Kampagne (oder ein Dutzend) jemals brauchen könnte. Die Stadtviertel sind beschrieben, man findet eine Reihe von NSC, Gangs und Konflikten, die in einer Kampagne zum Tragen kommen können.
Für die aktuelle sechste Edition von Shadowrun gibt es zum Beispiel:
- Emerald City von Catalyst (leider nicht auf Deutsch), den aktuellen Band zu Seattle
- Berlin 2080 von Pegasus Press, den aktuellen Band zu Berlin
- Revierbericht 2082 von Pegasus Press, den aktuellen Band zum Rhein-Ruhr-Megaplex
In den jeweiligen Kampagnenbänden findet man auch Informationen zu anderen Sprawls, je nach dem, wo sie spielen.
Kein Licht ohne Schatten
Die Publizierten Setting-Bände sind für gewöhnlich sehr gut und beinhalten wirklich viel Material zu einem bestimmten Megaplex. Aber sie haben auch ihre Nachteile. Welche das sind, möchte ich hier genauer beleuchten:
Zu viel Lore. Jede der oben genannten Städte hat mindestens seit der 2. Edition immer wieder Content bekommen. Inzwischen ist Shadowrun 34 Jahre alt. Da kommt einiges zusammen, selbst wenn man nur diese eine große Stadt, diesen einen Megasprawl im Blick hat. Für Neulinge ist das einfach überwältigend, und ein Charakter der heute ein Runner mit etwa 20 Jahren ist, hat zumindest alles was seit der 3. Edition passiert ist miterlebt. In publizierten Sprawls ist die schiere Menge an dem was Joe Runner weiß einfach zu viel für einen Anfänger, der gerade erst in die Schatten taucht.
Lose Enden. Etwas, das sich nicht vermeiden lässt und praktisch überall vorkommt. Man stößt irgendwo in einem Settingband auf einen Plotstrang… folgt ihm… und dann kommt nichts mehr dazu. Ein Spiel das so alt ist wie Shadowrun hat eine ganze Menge offener Enden, und ein Spielleiter der die Welt noch nicht in- und auswendig kennt, weiß damit vielleicht nicht wirklich weiter.
Lebendige Enzyklopädien. Das ist weniger ein Problem der Setting-Bände, als eines das sehr Rollenspieler-inhärent ist. Es gibt sie in jeder Gruppe. Diejenigen, die entweder seit Jahrzehnten selbst spielen und leiten, oder alles aufsaugen wie ein Schwamm und nichts davon wieder vergessen. Und das müssen sie auch jedem auf die Nase binden, wenn etwas nicht so ist, wie sie es kennen.
Möglichkeit 2: Homebrew
Die Landkarte von Shadowrun hat viele weiße Flecken, und einige davon wurden auch in früheren Editionen nicht allzu ausführlich behandelt. Hier kommt dann das selber bauen – oder eben Homebrew – eines Sprawls ins Spiel. Diese Methode verhindert relativ effektiv die Nachteile der oben genannten Settingbände, bedeutet auf der anderen Seite aber einen ganzen Arsch voll Arbeit. So ein Setting schreibt sich nicht von selbst, und in den Redaktionen sitzen gewöhnlich Leute, die dafür bezahlt werden, diesen Job zu machen.
Dennoch hat selbst bauen eine ganze Reihe von Vorteilen. Man kann einen Sprawl erschaffen, der auf die Vorlieben und Kampagnenwünsche der eigenen Gruppe ausgelegt ist, ohne dass einem die Lore in den Weg kommt. Ist der Sprawl eher durch Technologie oder durch Magische Phänomene geprägt? Beim Homebrew entscheidest du! Wer hat hier das sagen, wer steht dagegen? Deine Wahl. Unterwelt, Gangs und Runs die zur Verfügung stehen? Alles liegt in deinen Händen.
Alles ist eine ganze Menge…
Die kreative Freiheit die man mit dieser „weißen Leinwand“ hat ist natürlich ungleich größer, als wenn man mit einem vorgefertigten Setting arbeitet. Aber diese Methode hat natürlich auch Nachteile, die man nicht ignorieren sollte, wenn man entscheidet, wo man eigentlich spielen will.
Keinerlei vorgefertigtes Material. Einer der wohl signifikantesten Nachteile ist der, dass man genau kein vorgefertigtes Material hat. Keine Karten, keine wichtigen Ereignisse, keine NSC. Nichts. All das muss man für einen eigenen Sprawl selbst erstellen – und das kostet Zeit, Energie und Nerven.
Kein festgelegter Anker in der „großen Welt“. Obwohl natürlich die Konzerne in jedem größeren Sprawl anzutreffen sind, gibt es vermutlich keine Plotstränge, die in deinen Sprawl führen. Als Anfänger kann es sehr schwierig sein, eine Stadt ohne bisherige Anknüpfungspunkte in der Welt zu verankern, und ihm eine gewisse Wichtigkeit zu verleihen. Meiner Erfahrung nach gelingt das fortgeschrittenen Spielleitern leichter, als solchen die gerade erst anfangen.
Die Angst vor der weißen Leinwand. Nichts ist so schwer, wie etwas neues anzufangen und Angst zu haben, dass man den eigenen Ansprüchen oder denen der Spieler nicht gerecht wird. Wenn man einen kompletten Sprawl neu baut, ist das in etwa so, als würde man für eine Fantasy-Kampagne eine ganze Welt neu bauen. Einen sinnvollen Anfang zu finden ist hierbei schwer, vor allem wenn man zur Fraktion der Perfektionisten gehört.
Wie löst man das Dilemma?
Wie ich bereits eingangs sagte, lässt sich die Frage nach der „richtigen“ Wahl nicht so einfach beantworten. Ich kann aber teilen, was die für mich persönlich richtige Herangehensweise ist und war.
Persönlich spiele und leite ich gern in Seattle. Es ist einfach „die“ Shadowrun-Stadt, und bietet mir am meisten Material. Es hat aber auch seine Lücken, in denen ich mit eigenen Ideen, den Hotspots, eingreifen kann. Für mich ist dieser Hotspot ein etwa 12km² großes Gebiet in den Redmond Barrens, in dem ich einen Schwarzmarkt, einige Gangs, Unterkünfte und anderes unterbringen kann, das ich im Alltag meiner Kampagne brauche.
Andere Hotspots die ich gebaut habe befinden sich in Bellevue, Tacoma, und sogar in Downtown Seattle. Manchmal sind es nur einzelne Häuserblocks, mal ein etwas größeres Gebiet, das Anlass für verschiedene Runs gibt. Zwar schreibe ich auch an meinem eigenen Sprawl Nürnberg, aber das Spiel wird erst dahin führen, wenn ich denke, dass ich weit genug bin um auf alle wichtigen Fragen eine Antwort zu haben.
Wenn ich also einen Rat geben sollte, ist es genau dieser. Sucht euch einen Sprawl aus den Publizierten aus und startet eure Kampagne dort. Gebt den Spielern eine grobe Timeline was bisher passiert ist (30 Jahre sollten reichen). Sucht euch eine leere/weniger ausgearbeitete Ecke des Sprawls aus, und füllt sie mit Leben. Dann schickt eure Runner dorthin.
Mich interessiert allerdings, wie ihr das in euren Kampagnen bisher handhabt! Schreibt mir doch einen Kommentar und teilt, welche Möglichkeit ihr bevorzugt, und warum.
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